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Jochen Stelzer
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Komplett gelähmt und künstlich beatmet

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Marler Zeitung 13.09.2024
Komplett gelähmt und künstlich beatmet
Aber Jochen Stelzer feiert das Leben
© Heinz-Peter Mohr
Jochen Stelzer (72) machte in Marl zehn Jahre als Ratsherr Politik. Heute ist er ans Bett gefesselt, wird künstlich beatmet - und engagiert sich weiter.
Wer einem schwer Gelähmten gegenübersteht, der künstlich beatmet wird, reagiert normalerweise beklommen. Nicht so bei Jochen Stelzer. Sein ansteckender Humor, seine gute Laune nimmt Besuchern jede Befangenheit. Seine 24 m² große Wohnung ist offen für Freunde und Sitzungen des Paritätischen (Wohlfahrtsverbands). „Ich gehe immer entspannt und glücklich raus, wenn ich hier bin“, sagt eine Krankenschwester.
Jochen Stelzer atmet mithilfe eines Schlauchs. Er kann nur noch den Kopf, den Daumen und einen Finger der rechten Hand bewegen. Trotz dieser enormen Einschränkungen mischt er sich in die Politik ein. Er schreibt Leserbriefe für unsere Zeitung, hat ein Buch verfasst, einen Film selbst gedreht und geschnitten. Als Genussmensch schätzt er gute Rotweine, köstliche Bauernsalate und zum Abschluss einen edlen Malt Whisky. „Gutes Essen ist der Sex des Alters“, scherzt er. Bürgermeister Werner Arndt sagt über Jochen Stelzer: „Ich habe selten so einen fröhlichen, gut gelaunten Menschen gesehen.“
Mitten im Leben
Mancher körperlich gesunde Mensch ist durch Depressionen, Lebensangst oder Schüchternheit mehr vom Leben getrennt – mehr „behindert“. Woher nimmt Jochen Stelzer die positive Lebensenergie, mit der er seinen Handicaps trotzt?
Mit sieben Jahren hatte er seine Krankheit zum ersten Mal gespürt: „Eines Tages konnte ich nicht mehr so schnell laufen“, erzählt er. „Das Treppensteigen fiel mir plötzlich schwer. Dann stürzte ich beim Fahrradfahren und stolperte immer wieder.“
Die Ärzte gaben ihm nur wenige Jahre
Was die Diagnose fortschreitender Muskelschwund bedeutete (die Skelettmuskulatur bildet sich zurück, die Krankheit befällt Herz und Lunge), war ihm als Kind noch nicht klar. Später, mit 14 Jahren, belauschte Jochen Stelzer ein Gespräch seiner Eltern und seiner älteren Schwester – und erfuhr, dass ihm die Ärzte nur noch sechs bis acht Jahre gaben.
Er selbst gab sich nicht auf, fuhr im Rollstuhl durch die Siedlung in Drewer, traf sich immer wieder mit der Freundesclique und sorgte als DJ bei Kellerpartys für gute Musik. Das Mischpult baute er selbst zusammen.
Traumberuf Politiker
Zunächst verlief seine Krankheit wie von den Ärzten vorausgesagt. Doch dann feierte Jochen Stelzer unerwartet seinen 23. Geburtstag, den 24., den 25. Das Leben ging weiter. „Da stand ich vor dem Problem, wie ich meine Zukunft planen sollte“, erzählt er. „Ich hatte mich ja nie um einen Beruf gekümmert.“
Seine Ausbildung zum Goldschmied hatte Jochen Stelzer abgebrochen, weil er nicht mehr richtig greifen konnte. Mit Mitte 20 besann er sich auf seine Stärken: „Ich kann gut reden, mit Menschen umgehen und Ideen entwickeln. Und ich habe was zu sagen.“ So wurde es sein Traum, Politiker zu werden.
Zweimal in den Rat gewählt
Jochen Stelzer nahm Kontakt zur SPD auf, engagierte sich bei den Jusos. Von Zivildienstleistenden ließ er sich im Rollstuhl durch Drewer schieben, zu Stadtteilfesten, Kleingartenanlagen, Protestkundgebungen. Überall traf man den rollstuhlfahrenden Sozialdemokraten, der seiner Krankheit trotzte und sich nicht scheute, die Menschen anzusprechen. Sie wählten ihn 1994 und 1999 zweimal direkt in den Rat. Diese zehn Jahre als Politiker sollten ein Höhepunkt in seinem Leben werden.
Als Vorsitzender des Ausschusses für Kinder, Jugend und Familien und stellvertretender Fraktionsvorsitzender der SPD veränderte Jochen Stelzer, was angeblich nicht zu ändern war. Er setzte ein Behindertentaxi durch, die Einrichtung einer Wohngruppe für Menschen mit spastischen Lähmungen und den ersten Wegweiser für Menschen mit Handicaps.
Aus der Bahn geworfen
Sein Engagement geht über Parteipolitik hinaus: Fast ein Vierteljahrhundert leitete Jochen Stelzer die Publikumsjury des Grimme-Preises in Marl. Einmal überreichte er den Preis auf der Theaterbühne und tanzte nachts bei der Grimme-Party mit dem Rollstuhl auf dem Parkett. Er setzte sich im Pfarrgemeinderat von St. Heinrich ein, im Vorstand des Arbeiter-Samariter-Bundes, gab in der Willy-Brandt-Schule Kreativkurse für Schüler.
Plötzlich hörte man nichts mehr von ihm. 2006 warfen ihn zwei komplizierte Darm-Operationen und eine lebensbedrohliche Lungenentzündung aus der Bahn. Jochen Stelzer musste drei Tage ins Koma versetzt werden. Seither ist seine Muskelsubstanz zerstört. Er ist dauerhaft ans Bett gefesselt, wird über einen Luftröhrenschnitt und eine Maschine Tag und Nacht beatmet. Sein Leben hängt davon ab, dass sie funktioniert.
„Wer resigniert, verliert“
Anfangs kam kaum Luft an seine Stimmbänder: „Ich konnte kaum reden – das war für mich die schlimmste Erfahrung. Und ich hatte Angst, dass ich ins Pflegeheim abgeschoben werde und verkümmere. Ich wollte doch eigenverantwortlich bleiben und in meiner Wohnung leben.“
Für Jochen Stelzer war das kein Grund zu resignieren. Wer resigniert, verliert, meint er. Er trainierte seine Atemmuskulatur gezielt, die Lunge wurde stärker, nach einem Monat konnte er wieder sprechen. Über den Bochumer Verein Selbstbestimmte Assistenz für Behinderte organisierte er Hilfe: Bis heute wird der 72-Jährige von sieben Assistentinnen rund um die Uhr in Schichten betreut. Regelmäßig behandelt ihn auch eine Physiotherapeutin: „Ich bin der einzige Marler mit bezahltem Harem.“
Kerstin Schmaloer pflegt und betreut Jochen Stelzer in 24-Stunden-Schichten im Wechsel mit anderen Behindertenassistentinnen.© Heinz-Peter Mohr
Internet als Nabelschnur zur Welt
Solche Scherze sind typisch für Jochen Stelzer. Täglich präsentiert er auf seiner Homepage einen Witz. „Trotz meiner Behinderung habe ich ein saugutes Lebensgefühl“, sagt er. „Das stabilisiert mein Immunsystem und verlängert mein Leben.“
Über ein Spracherkennungsprogramm gibt er eigene Texte in den Laptop ein, chattet, mailt Einladungen und sendet Weihnachtsbotschaften an Freunde. „Das Internet ist meine Nabelschnur zur Welt“, sagt Jochen Stelzer.
© Heinz-Peter Mohr
Mit einer speziellen Maus bedient Jochen Stelzer das Sprach- und Schneideprogramm seines Laptops.
Mit zwei Fingern Film gedreht
Vor sechs Jahren hat er sogar einen Film produziert. Der Titel könnte über seinem Leben stehen – „Nimm teil: Habe Mut“. Mit dem Daumen drehte er den Ball einer speziellen Computermaus. So bewegte er den Cursor seines Laptops mit HD auflösender, eingebauter Kamera – und nahm den 22-minütigen Film auf. Er schnitt ihn mit einer barrierefreien Software, bearbeitete Kontrast und Farbsättigung. In dem Video erzählt Jochen Stelzer, wie er sein Leben trotz Handicap meistert. Die Universität Enschede zeigte es bei einer Fortbildung über Behinderung und Teilhabe.
Auch für eine mehr als 400 Seiten starke Autobiografie nahm sich Jochen Stelzer die Zeit. Das Buch mit dem Titel „Mut zum Ich“ war lange im Buchhandel erhältlich, noch immer kann man es über seine Homepage bestellen.
Das Leben feiern
Der Bundespräsident hat sein großes Engagement mit der Verdienstmedaille gewürdigt.
Ans Bett gefesselt und voller Elan? Für Jochen Stelzer ist das kein Widerspruch: Er bleibt durch und durch Optimist: „Meine Freude hilft mir, Schicksalsschläge zu ertragen.“ Am Freitag trotzt er weiter allen Mediziner-Prognosen, feiert seinen 73. Geburtstag und das Leben: „So bin ich durch die Menschen in Marl geworden. Trotz meiner Handicaps habe ich ein schönes, reiches Leben. Ich habe meine Chancen genutzt und kann den Menschen immer noch etwas zurückgeben.“
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